Arcade Fire in Berlin

Irgendwie sind Arcade Fire die größte Band dieser Zeit. Das sage ich jetzt einfach mal so. Klar, die Kanadier füllen keine Stadien und da draußen gibt es immer noch Millionen Personen denen der Name mal so gar nichts sagt. Unter Musikbegeisterten gibt es jedoch kaum eine Truppe, die ähnlich beliebt ist wie die Kapelle aus Montréal. Lieblingsband? Arcade Fire. Ob das emotional-euphorische Debüt „Funeral“, das monumentale „Neon bible“, das verträumte „The suburbs“ oder die Discokugel namens „Reflektor“ – alle vier Alben von Arcade Fire könnten zurecht von der Top-10-Alben-des-21.-Jahrhundert-Spitze thronen. Wenn Win Butler und Co. also im Vorfeld ihres fünften Albums eine Tour ankündigen und neben vielen Festivals dabei in der Berliner Wuhlheide vorbei gucken, ist das Ding innerhalb einiger Stunden ausverkauft. Im Vorfeld ist eigentlich bereits sicher, dass die Show eine der besten Momente des Jahres werden wird. Und dass Arcade Fire irgendwie jeden Song spielen können. Aber welche lassen sie weg? Und wann kommen die ersten Freudentränen? Ein persönlicher Bericht.

Die Stunden zuvor:

Oh oh, das Wetter. Nach Überschwemmungen einige Tage vor dem Konzert und stundenlangen Diskussion, die belegen, dass Shows durch Regen eigentlich nur besser werden können, ist es trocken. Ja! Wer hätte das nach dem überaus suboptimalen Herbstnieselregen am Nachmittag gedacht. Gegen 19 Uhr kommt in der traumhaften Wuhlheide sogar die Sonne heraus und Temperatur sowie Laune steigen in ungeahnte Höhen. Da wird sogar der etwas müde Support-Act Beak zur annehmbaren Unterhaltung. Das Projekt um den Bassisten von Portishead groovt sich Alt-J-esque durch die Abendsonne, beendet seine Tracks aber leider immer dann, wenn sie am besten werden. Höfliches Geklatsche!

Stimmung:

Viertel nach acht, halb neun, zwanzig vor neun – so langsam macht sich Unruhe und immer besser werdende Laune breit. Nachdem man die Protagonisten von Arcade Fire zu Beak noch an der Seite der Bühne wackeln sehen konnte, lassen sie nun die Menge zu „Should I stay or should I go“ als Warte-Musik zappeln. Noch ist weit vorn genug Platz, um zu tanzen. Und relativ unspektakulär („Licht aus“ ist nicht um 20:45) geht’s dann auch los. Die Hipster-Weirdos betreten dann doch episch die Bühne und schunkeln mit dem neuen „Everything now“ los. Und siehe da, es wird bereits ausgelassen mitgesungen und getanzt. Danach ein kurzes Beckengewitter und der legendäre Beginn von „Rebellion (Lies)“. Scheiße, jetzt geht’s so richtig los.

SpecialFX:

Es ist noch äußerst hell, also können sich Arcade Fire in keiner Weise auf eine Lightshow verlassen. Müssen sie auch nicht. Will Butler turnt zu „Rebellion (Lies)“ von links nach rechts und zelebriert sein markantes Trommelgeklopfe, während sein Bruder am Gesang den Hit von „Funeral“ nach vorne prescht. Und schon kullern die ersten Augenflüssigkeiten. Schaffen die paar Leute auf der Bühne da gerade wirklich einfach nur mit ihrem Song einen magischen Moment zu kreieren? Man glaubt es nicht. Später im Dunkeln spielen Arcade Fire mehr mit dem Licht und ihren Spiegeln bzw. Bildschirmen. Insgesamt bleibt die Musik aber dauerhaft im Vordergrund. Mehr braucht es hier auch nicht.

Dramaturgie:

„How to make a perfect setlist“ by Arcade Fire. Nach einem rasanten Debüt (komplettiert mit „Here comes the night time“ und „No cars go“) wird es im Mittelteil etwas bedächtiger und umso epischer. Nach „The Suburbs“ wird mit dem extrem treibenden „Ready to start“ die Tanzfläche endgültig eröffnet. Mit „Tunnels“ und „Sprawl II (Mountains beyond mountains) wird das Tempo kontinuierlich angezogen, ehe alles im wütenden Disco-Doppel „Creature comfort“ (funktioniert live ganz famos) und „Power out“ (wie immer bis aufs Letzte zelebriert) mündet. Durch und durch werden die Tracks der vier Alben dabei wild gemischt und kreieren doch einen famosen, roten Faden. Das Konzert endet mit den zwei Zugaben „Wake up“ (die geplante) und dem ruhigen „Neon bible“ (spontan).

Ansagen:

Gibt es kaum. Hin und wieder nuschelt Win Butler etwas ins Mikrofon, bedankt sich beispielsweise auf Deutsch oder appelliert, dass „Intervention“ damals zu G.W.-Bush-Zeiten geschrieben wurde und wir die heutigen wie die damaligen auch überleben werden. Ansonsten knüpfen Arcade Fire einen Song an den anderen und beweisen, dass sie Künstler der Übergänge sind. Ob Gitarrengefiepe oder ein durchgängiger Beat, hier kommt alles zum Einsatz. Die Truppe auf der Bühne gibt bewegungsmäßig auch überraschend viel – mit Unlust hat die sporadische Kommunikation also wenig zu tun. Eher eine bewusste Entscheidung zur Musik. In Anbetracht der wenigen Ansagen sind die gut 1:45 gespielten Stunden nochmal höher anzurechnen.

Tränenfaktor:

„They told me not to cry“ heißt es im Epos „Wake up“ – da ist es jedoch schon längst zu spät. Im früh kommenden „No cars go“ blickt man in euphorische und feuchte Augen, das folgende „Intervention“ schießt dann endgültig den Vogel ab und beim wohl besten Arcade-Fire-Song „Tunnels“ wundert sich dann auch wirklich niemand mehr über weinende Erwachsene. „Wake up“ im Dunkeln setzt dem Ganzen mit seinem Aus-der-Seele-Brüllen dann sowas von die Krone auf.

Venue:

Der absolute Traum. Trotz dem nur passablen Wetter ist die Berliner Wuhlheide der perfekte Standort für diesen Gig. Genug Platz im Innenraum, gute Sicht für (fast) alle und sogar die „Tribüne“ tanzt und singt, was das Zeug hält. Besonders schön ist auch das gemeinsame Essen vor Konzertbeginn auf den Stufen der Freiluft-Arena. Insgesamt sind die Preise vielleicht ein wenig zu hoch – dies wird jedoch von den zahlreichen eher weniger offiziellen Bierverkäufern auf dem Weg von der S-Bahn-Station wettgemacht.

Moment des Abends:

Verdammt schwierig zu benennen. Es wäre keine Lüge zu sagen, dass von „No cars go“ (der fünfte Track) bis „Neon bible“ jeder Track ein absoluter Kracher war – dazu noch perfekt angeordnet. Neben den üblichen Highlights wie „Tunnels“, „Power out“ und „Wake up“ überzeugt auch das „Reflektor“/“Afterlife“-Doppel, welches den finalen Teil einläutet. Ganz besonders ist jedoch die Trilogie „No cars go“, „Intervention“ und „Suburban war“. Nach den zwei Herzstücken von „Neon bible“ spielen Arcade Fire jene Album-Rarität – den wohl meist unterschätzten Song der Kanadier. Was für ein besonderes Erlebnis auf dieser Reise.

Und sonst so?

Win Butler entdeckt im Publikum ein Kind und wirft jenem jungen Konzertbesucher von der Bühne aus seinen Schellenkranz zu. Ein größerer Fan fangt das Wertstück, woraufhin Win ihn bittet jenes doch an das Kind weiterzugeben. Gesagt, passiert. Ein schöner Moment, der dadurch veredelt wird, dass Win im abschließenden, ruhigen „Neon bible“ das Kind quasi als neues Bandmitglied benutzt. Aus dem Publikum hört man leise Tamburin-Geräusche. Hach.

Gut getroffen:

 

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