Die intensivsten Momente des Jahres

Ist es nicht unfassbar, dass ein paar übereinander geschichtete Töne solche Gefühle auslösen können? Diese Sekunden, in denen sich etwas im Inneren zusammenzieht und die Intensität Gänsehaut erzeugt. In 2017 gelang das unter anderem folgenden zehn Songs.

10. Citizen – As you please

Bezaubernden Emo-Rock mit wehleidigen Gitarren gab es heuer unter anderem von den saustarken Citizen. Nachdem Brand New wegen ihrer Missbrauchsaffäre dezent ihr Ansehen und damit auch letztes Album zerstört haben, sind Citizen in jener Musikrichtung die Vorreiter des Jahres. Mehrmals schwingt auf ihrer Platte „As you please“ diese messerscharfe, elektrisierende Stimmung zwischen den Zeilen – am auffälligsten ist dieses wohl im Titeltrack, der besonders schleppend daherkommt und dadurch klamm wirkt.

9. The Duke Spirit – In breath

Während der zehnte Platz insbesondere mit Gitarren überzeugen kann, setzt dieser Track auf den großen Vier-Saiter-Bruder. Von Beginn an steht in „In breath“ ein unheimlicher, beklemmender Bass im Vordergrund, der einzig von einer kriegsartigen Base-Drum vorangetrieben wird. Mysteriöses Gitarrengeklimper ergänzt dieses Zusammenspiel, ehe der wehleidige Refrain einen wunderbaren Harmoniewechsel und bezaubernde Geigen im Gepäck hat. Ein Ausnahmebeispiel für das Erfolgsrezept der gesamten The-Duke-Spirit-Platte „Sky is mine“.

8. NRVS LVRS – Lost to the max

Was wurde dieses Jahr nicht (endlich mal) über sexuelle Belästigung im Alltag geredet. #metoo ging viral und mehrere Bands wurden der Geschichte zum Opfer. In diesem Sinne sind die Worte, die NRVS-LVRS-Sängerin Bevin Fernandez im Refrain von „Lost to the max“ singt noch beklemmender. „Be calm, stay silent. Good girls keep quiet“ haucht sie über bedrohliche Elektro-Töne zwischen Fever Ray und Hundreds und macht mit jenen Lyrics die ohnehin schon vor Spannung zerspringende Stimmung noch intensiver. Ein düsteres Sahnestück mit viel Gesellschaftskritik.

7. LCD Soundsystem – how do you sleep?

Es ist eines der Comebacks des Jahres: Die Indie-Electro-Punks (oder was auch immer) von LCD Soundsystem haben sich nach ihrer Live-Reunion auch mit einem starken Tonträger zurückgemeldet. Auf diesem bewegt sich das Kollektiv um James Murphy größtenteils in den gewohnten, grandiosen Gewässern. Mit dem wahnsinnig guten „how do you sleep?“ werden aber auch neue, dunkelschwarze Ebenen betreten. Insbesondere beim ersten Hören schockt der Mittelteil jenes 9-Minuten-Stücks so richtig. Nachdem sich Murphy über gut drei Minuten in der mysteriösen Percussion- und Synthie-Hölle umherschwebt, attackiert auf einmal ein mörderisch brennender Synthie-Bass. Langsam wird das Tempo angezogen, die Nummer eskaliert und kreiert damit ein einmaliges Erlebnis.

6. Fjørt – Raison

Ein durch und durch umwerfendes und intensives Werk haben dieses Jahr in der deutschen Musiklandschaft die emotionalen Post-Hardcorer von Fjørt bereitgestellt. Ihr neuster Streich „Couleur“ nimmt den epischen Sound der Vorgänger mit, versiert jenen mit politisch klaren Lyrics und intensiviert die Chose nochmal ein bisschen. Noch härter und gleichzeitig noch harmonischer kommt die Platte um die Ecke. Letzteres kommt insbesondere im zentralen Track „Raison“ zum Vorschein, welches politisch am aussagekräftigsten ist. Außerdem stellen die Aachener Jungs hier einen Synthesizer in den Vordergrund, ballern erst am Ende so richtig mit den Gitarren los und sorgen so für willkommene und erschaudernde Abwechslung.

5. Cold Reading – Sojourner

DIE vielleicht stärkste EP des Jahres kam von den schnieken Jungs von Cold Reading und verdient in einem Jahresrückblick unbedingt Anerkennung. Auf der „Sojourner EP“ imponierten die Schweizer dabei vor allem mit ihrer Variabilität, die in dem klischeebehafteten Genre Emo-Rock (darf man das hier so benennen?) gerne mal auf der Strecke bleibt. In ein Stück gepackt erkennt man diese insbesondere im famosen Titeltrack, der eine ähnliche Achterbahnfahrt wie, nunja, das Leben bietet. Das sanfte Gitarren-Synthiepad-Intro wird langsam von einem ausgefeilten Beat abgelöst und sorgt vorab für Gänsehaut. Richtig groß wird es dann, wenn im zweiten Teil der Gesang nahezu ins Geschrei abdriftet und jedes Instrument den Anschlag gefühlt verdreifacht. So viele schöne Momente.

4. Bazart – Goud

DIE 3-Minuten-lange Entdeckung des Dour Festivals 2017 war definitiv das Konzertende der belgischen Indie-Popper Bazart. Wie eine sanfte, niederländisch singende Balthazar-Version zogen die Jungs dort zur Primetime eine Menge Leute an – vor allem aufgrund eines Songs. Ihr Riesenhit „Goud“ hat dabei diesen Ruhm vollkommen verdient. Der perfekt aufgezogene Pop-Track lädt mit seinen Stranger-Things-Flächen zum Schweben ein – gleichzeitig pumpt ein zielstrebiger Beat und die sich häufig wiederholende Hook bohrt sich peu-à-peu ins Nervensystem, wo es Gänsehaut erzeugt. Groß. Goud!

3. Agent blå – Dream boy dream

Von der großartigen Jugendlichkeit und Spritzigkeit des ersten Wurfs von Agent blå war bereits anderswo zu Genüge die Rede. Kein Wunder also, dass die finnische Truppe es mit ihrem schnörkellosen Gedresche auch in die Liste der intensivsten Momente geschafft hat. Zauberhaft ist insbesondere der zunächst unscheinbare Albumtrack „Dream boy dream“. Ein relativ ordinärer Drumbeat wird von einer unkomplizierten Akkordfolge (eigentlich sind es sogar nur zwei!) begleitet. Es folgt jedoch der fantastische Refrain mit den wunderschönen Worten „I want you to dream about me every night“. Die Gitarrenlinie verkörpert dabei jenen Wunsch derart treffend, dass die wenigen Sekunden direkt ins Mark gehen. Noch viel toller: der minimale Tonartwechsel im abschließenden Refrain.

2. Amber Run – No answers

Oft sind es die überraschenden Elemente. Diejenigen, die ein Ausbrechen ermöglichen und einem einfach so ins Gesicht geschmissen werden, sind jene, bei denen sich die Haare aufstellen. Die Indie-Rocker von Amber Run haben davon ein Liedchen namens „No answers“ geschrieben. Während schon das Grundgerüst unglaublich stimmig ist und eine dringliche Alternative zu den kanadischen Half Moon Run entwirft, geht es in der Bridge plötzlich richtig zur Sache. Nach einem minimalen Cooldown schreit Sänger Joe Keogh auf einmal los und wird von einer knackigen Snare sowie Gitarrengefiepse begleitet. Ein kurzer, sehr purer Moment, dem mit dem folgenden Gitarrengewitter noch mehr Bedeutung zugesprochen wird.

1. Kamikaze Girls – I don’t want to be sad forever

Ja, 2017 war welt- und nationalpolitisch ein eher schwieriges Jahr. Neben einigen Lichtblicken (Ehe für Alle) dominierte ein tristes Grau in der Berichterstattung, welches hin und wieder kleine Minikomplexe erzeugte. Den perfekten Soundtrack für diese Momente lieferten im Frühling die britischen Kamikaze Girls, die auf ihrem punkigen Debüt „Seafoam“ vor allem am Ende berühren. Im faszinierenden „I don’t want to be sad forever“ reiht Sängerin Lucinda Livingstone einen vollkommen realistisch erscheinenden, humanistischen an den Nächsten – und brüllt sich dabei die Seele aus dem Hals. „We don’t need more money, we need peacemakers“, „We need to fix this together, and we need to fix this now“, „I don’t want to be sad forever but I know that I probably will be“. Diese drei Ausschnitte sprechen plakative und doch großartig gelungene Bände. Wenn dazu die verwaschenen Fuzz-Gitarren ertönen und sich die Stimme überschlägt, ist der Moment an Intensität in 2017 nicht mehr zu überbieten.

Gebt euch hier das maximale Gefühlsgewitter:

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