Traditionell gönnt sich die physische Musiklandschaft im letzten Monat des Jahres ein Päuschen. Unnötige Weihnachtskompilationen drängen sich in den Vordergrund und ansonsten möchte man dem überforderten, unaufmerksamen Mensch im Ende-des-Jahres-Stress ja auch nicht noch neue Musik aufdrücken. Wie so häufig im Leben gab es auch im zwölften Abschnitt von 2017 einige Ausnahmen. Hier findet ihr die lohnenswertesten Veröffentlichungen des Dezembers.
5. MarieMarie – Favorite rain (Single)
Die zweite Single der deutschen Künstlerin MarieMarie machte im Dezember in Indie-Kreisen auf sich aufmerksam – allerdings aufgrund einer weniger musikalischen Sache. Thema war das mutige, unzensierte Video, in dem sich die Sängerin splitternackt beim Stillen ihres Kindes zeigt. Der auf einen Mini-Skandal ausgelegte Clip wäre dabei für den Buzz jedoch gar nicht nötig gewesen, überzeugt schließlich das kleine Stückchen „Favorite rain“ mit kreativen Chor-Tönen und einer sanften Melodielinie. Die süßlich spielende Gitarre sorgt dabei in vereinzelten Sekunden für quirlige Abwechslung. Gerne mehr davon, vielleicht auf dem im März kommenden Album?
4. Poliça & stargaze – Agree (Single)
Bevor es zu den Langspielern geht, eine weitere bezaubernde Dezember-Single: Mit „Agree“ veröffentlichte das neu zusammengefundene Doppel Polica und stargaze bereits das zweite Stück aus dem im Februar kommenden, gemeinsamen Album. Die zweite Single entfacht dabei nach dem äußerst schwer zugänglichen, ersten Lebenszeichen große Vorfreude. Mehr in Richtung der zielgerichteten Elektro-Beats der Band aus den Staaten gehend überzeugt „Agree“ mit der fantastischen Stimme von Channy Leaneagh. Gleichzeitig stehen smoothe, organische Instrumente wie Streicher im Vordergrund, die den künstlerischen Einfluss von stargaze erkennen lassen. Ein äußerst gut funktionierender Mix, der ein Highlight für das Musikjahr 2018 verspricht.
3. Lemuria – Recreational hate (Album)
Surprise! Nachdem in den letzten Jahren ehe berühmte Künstler mit Überraschungsalben um die Ecke kamen, gehört das einzige derartige Release dieser Liste einer mäßig großen Band aus Amerika. Lemuria verbreitete mit „Recreational hate“ aus dem Nichts umwerfend schöne Musik im Indie-Emo-Rock-Format. Mit weiblichem wie auch männlichem Gesang kratzt das Trio am schroffen Punk-Klangteppich von Courtney Barnett („Christine Perfect“) und reiht sich gleichzeitig zwischen Emo-Genossen ein („Wanted to be yours“). Besonders verzückt jedoch das ruhig gehaltene Schlussdrittel um die sehr schönen Tracks „Trembling“ und „Marigold“. Und die Musikwelt haben Lemuria gleich mit ausgetrickst. Die physische Version der Platte erscheint als LP im Februar.
2. Robert Finley – Goin‘ platinum (Album)
Wann ist Dan Auerbach eigentlich zum König des bluesigen Garage-Rock und Co. geworden? Nach den Überflieger-Alben mit den Black Keys hat der Blondschopf schließlich mal eben das geniale „Tell me I’m pretty“ von Cage The Elephant produziert und mit der 70-jährigen Chrissie Hynde eine starke Pretenders-Platte aufgenommen. Als erstes Zugpferd für sein neues Label schmeißt Auerbach einen Mann ins Rennen, der nur sehr schwer als Newcomer bezeichnet werden kann. Der faszinierende Robert Finley gehört schließlich zu den höheren Semestern, ist fast blind und macht hobbymäßig seit Jahrzehnten Musik. Ein Wunder ist dabei, wie der grauhaarige Mann bis vor einigen Monaten unentdeckt bleiben konnte. Eine Wahnsinns-Soul-Stimme trifft auf einen Dan-Auerbach-infizierten Garage-Sound ohne dabei den Groove zu verlieren. Nette Geschichte mit mehr als hörbarem Ausgang.
1. The Balconies – Show you (Album)
Dass diese Platte im Dezember das wenige Tageslicht erblicken durfte, ist einer eher traurigen Begebenheit zu verdanken: Die Modern-Indie-Truppe The Balconies kündigte Mitte des Monats mehr oder weniger aus dem Nichts die Auflösung ihrer Band an. Um die Fans zu trösten spielt die kanadische Band abschließende Konzerte in Ottawa und Toronto UND packt unveröffentlichte Alben aus. Im Nachhinein releaste Platten aus Kanada? Da gab wir es doch mit Metrics „Grow up and blow away“ bereits ein Meisterwerk. Das ursprünglich für 2012 angesetzte „Show you“ geht zwar musikalisch in eine krachigere Richtung, dürfte aber zumindest ein großer Anfechten auf den zweiten Platz hinter jenem Meilenstein sein. Die Platte, auf der The Balconies noch als Trio mit weiblichem und männlichem Gesang auftraten, bietet eine abwechslungsreiche Spritztour durch die Welten des modernen Indie-Rock. Dabei greifen The Balconies häufig in die Trickkiste. Der Opener „Street fighter“ überrascht mit Tempowechseln, „Beating your heart“ bringt schwergängiges Grunge-Geriffe zum Vorschein, wohingegen „Tough tusks“ eher der Emo-Seite angehört. Durch die gesamte Platte ziehen sich außerdem immer wieder Stadien-füllende Melodien, die es unverständlich machen, dass diese Schatztruhe eigentlich nie veröffentlicht werden sollte. Schade, dass ihr euch dafür auflösen musstet – aber vielen Dank, The Balconies, für die großen Momente wie die federleichten Gitarrenkürvchen im Refrain von „French kiss“ (welches später zu „Fast motions“ verschlechtert wurde) oder ein vielseitiges Melancholie-Meisterwerk wie „Giant squid“.