Ach 2017. Manchmal fragt man sich doch „Wo soll das noch alles hinführen?“ und denkt in abgedroschenen Phrasen wie „Früher war alles besser“. Sicher ist dies nicht der passende Moment für umfassende Gesellschaftskritik: Über manche Phänomene macht man sich jedoch als Musikliebhaber große Gedanken. Zum Beispiel die elende Unaufmerksamkeit vieler Menschen, deren Konzentrationsspanne ungefähr der eines Snaps entspricht (ich schließe mich hiervon nicht aus). Es wird immer schwieriger, uns mit Musik zu erreichen, bei der man genauer hinhören muss. Da baut sich das Instrumental-Intro eine Minute auf und zack – Eilmeldung auf SPON und die Spotify-Playlist wird angehalten. Dieses Spannungsfeld kennt auch Lisa Who ganz gut. Die Musik der Berlinerin lebt von schleppenden Rhythmen und langen Stücken. Daher ist es ihr wichtig, dass sich ihre Hörer Zeit für ihr erstes Album „Sehnsucht“ nehmen. Gleichzeitig weiß die 32-Jährige natürlich, in welcher Zeit sie lebt und promotet sich selber über Facebook und Instagram. Ein Blick auf diesen Spagat einer modernen Künstlerin, die zeiteinnehmende Musik in der heutigen, schnelllebigen Zeit macht.
Eine Neue ist Lisa im Musikbusiness 2017 wahrlich nicht. Seit ihrer Jugend musiziert sie und auch „Lisa Who“ gibt es in unterschiedlichen Konstellationen nicht erst seit dem Release ihres Debüts „Sehnsucht“ im Januar. Die großen Bühnen hat Lisa als Tour-Keyboarderin für die allseits bekannten Madsen entdeckt – eine Band, deren Schnittmenge zu Lisa Who „nicht sehr groß“ sei, erfährt die Berlinerin immer wieder. Wahre Worte: „Sehnsucht“ ist mit seinen sechs monumentalen Songs in über 30 Minuten weit entfernt vom hittigen Deutsch-Indie-Pop-Rock der Madsen-Familie. Kaum zu glauben, schließlich wurden die Aufnahmen zu „Sehnsucht“ fast ausschließlich von Lisa und Madsen-Frontmann Sebastian gemacht, der neben tausenden Instrumenten auch noch den Produzenten meisterte. Das Ergebnis ist ein wunderbares, von schleppenden-Rhythmen überzogenes Album, in dem „Wenn sie tanzt“ mal eben Pink Floyds „Shine on you crazy diamond“ zitiert und vor anderen musikalischen Genialitäten kein Halt gemacht wird. Mit sechs Liedern und zwei Bonus-Versionen ist „Sehnsucht“ hingegen nicht monumental lang ausgefallen. Es gab noch andere Lieder zur Auswahl meint Lisa, entgegnet aber: „Man fühlt, wenn das Album voll ist“. Stücke wie das große 9-Minuten-Epos „Das Rauschen in mir“, das aus vier verschiedenen Teilen besteht, verlangen dem Hörer eigentlich auch schon genug ab. „Ich wünsche mir, dass man das Album auf Platte hört, sich einfach mal hinsetzt, versucht sich zu entspannen, mit einem Glas Wein in der Hand und nichts nebenbei macht“ empfiehlt Lisa als Rezeptionssituation für „Sehnsucht“. Wieso das? Weil das einfach viel zu selten möglich ist und gut tut: „Ich merke das bei mir, dass ich teilweise darunter leide, immer auf Zack zu sein.“
Schließlich ist man als Musikerin heutzutage noch mehr der medialen Welt ausgesetzt als ohnehin schon. Ein Album promotet sich in erster Linie über das Internet. Und so sehr das böse WWW an all unserem Stress Schuld sein mag, sieht auch Lisa das Web als „unfassbar tolle Möglichkeit für Musiker, um sich zu präsentieren“. Auch wenn sie die ganze Chose als „Hassliebe“ und „sehr ambivalent“ bezeichnet, sieht sie ein, dass dies früher in diesem Rahmen, der auf Eigenregie beruht, so nicht möglich gewesen wäre. Bei Lisa Who sind die Anlaufstellen vor allem Facebook und Instagram: zwei Plattformen, bei denen sie fast identisch viele Follower hat, die sie aber leicht unterschiedlich nutzt. Ihr Instagram-Account ist für Lisa eine Mischung aus Lisa-Privat und Lisa-Musik. Hier postet sie dann auch gerne mal ein Bild von ihrer Yogamatte, was sie auf Facebook nicht machen würde. Das, was sie privat von ihr preisgibt, entscheidet sie „sehr natürlich“ – Lisa meint aber auch, dass sie ihre genaue Rolle hier noch finden müsste. Sich selber beschreibt sie als „modernes Mädchen“, das die sozialen Medien mag. Aber eben auch deren negative Auswirkungen kennt. Sie selbst nimmt sich davon nicht aus und wünscht sich, dass sie häufiger zur Ruhe kommt. Eben genau das, was sie auch ihren Hörern vermitteln möchte. Auch auf die weite Welt der Musik hat Lisa einen positiven Blickwinkel. „Es gibt da draußen noch die Musik, die sich Zeit lässt.“ Diese würde sie gerne mit der heutigen Zeit verbinden und somit auch die Leute erreichen, deren Aufmerksamkeitsspanne „Snapchat“ heißt. Um ihnen Gutes zu tun. Schließlich meint sie: „Egal mit wem man spricht, es sind alle komplett fertig von dieser ganzen Überinformation.“
Generell beschreibt Lisa die Musikwelt und den Künstlerjob als „harten Weg“, mit dem sie aber inzwischen im Reinen ist. „Früher habe ich meine Nebenjobs gehasst“ meint die 32- Jährige, deren Lebensinhalt nach der Schule vordergründlich die Musik war. Heute meint Lisa, dass es gar nicht mehr ihr Ziel sei, mit dem Projekt Lisa Who ihre gesamte Kohle zu verdienen. Zwischen den ersten Tourdates im März und den nächsten Konzerten im Mai ist und arbeitet sie derzeit in Berlin – in einem „richtigen“, nicht-musikalischen Job. „Es ist schön, einen Gegenpol zu haben“ meint Lisa und erklärt, wie schwierig es sei sich als Musikern zwischen Touren einen Alltag aufzubauen, der ihr durch den flexiblen Job gegeben wird. Eine Auffassung, die viele Personen um sie herum bewundern, zu der Lisa aber auch erst gekommen ist, nachdem sie anfing ihren Hauptlebensunterhalt mit Madsen zu verdienen. Lisa lebt und liebt also ihren gemischten Lifeystle zwischen Musik und Normalo-Life. Nach den Lisa-Who-Konzerten im Mai geht sie im Sommer auf Festivalreise mit Madsen und will nebenbei „ein bisschen den Sommer genießen“, bevor es im September nochmal auf größere Lisa-Who-Tour gehen soll. Irgendwann möchte sie auch mal gerne wieder weit weg, und einfach mal komplett abschalten (vermutlich auch das Handy im buchstäblichen Sinne). Andererseits arbeitet sie auch schon nebenbei an Demos und neuen Liedern, die sie live bereits präsentiert. Ein zweites Album soll noch dieses Jahr aufgenommen werden und relativ früh 2018 erscheinen. Denn wie Lisa selbst so schön die Frage, was sie denn gerade so macht, resümiert: „Eigentlich macht man immer das Gleiche, nämlich Musik“. Ein schönes Schlusszitat, welches sicherlich auch auf Instagram funktioniert – und einige Leute dazu gebracht hat, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen und diesen Text zu lesen.
Am 11.5. spielt Lisa Who im Planetarium Zeiss in Berlin. Außerdem geht es am 19.5. nach Braunschweig, am 20.5. in Kaiserslautern und am 21.5. in Frankfurt/Main. Eure City nicht dabei? Im September kommt wohl eine weitere Tour.
Lisa’s Epos „Das Rauschen in mir“ gibt es auch im aktuellen that new music mix zu genießen. Auf dieser Seite eigentlich nicht zu übersehen. 😉