Kamikaze Girls? Wer ist das denn?
Eine kleine Lüge hat sich hier in den Bandnamen geschlichen. Entgegen der Behauptung bestehen Kamikaze Girls nämlich nur aus einem Girl und einem Boy. Lucinda am Gesang und der Gitarre sowie Drummer Connor lassen sich aber durchaus als „kamikaze“ bezeichnen. Das Duo aus England hat sich in den letzten Jahren einen Namen in der britischen DIY-Szene gemacht und überzeugt mit einer Kreuzung aus Punk und Hardcore, die aber auch für Nicht-Szene-Kundige gut hörbar ist. Nach einigen EPs veröffentlichen die beiden nun mit „Seafoam“ ihre erste Platte – und die ist gut. Verdammt gut!
Wieso muss ich „Seafoam“ jetzt unbedingt hören?
Das Debütalbum des Duos glänzt mit zahlreichen, emotionalen und berührenden Momenten. Kamikaze Girls gelingt es nämlich die ausgeprägten Punk und Hardcore-Wurzeln mit starken Pop-Elementen zu verbinden und dabei die Dringlichkeit in keiner Weise zu verlieren. So schickt beispielsweise der Opener „One young man“ den Hörer zunächst auf eine falsche Fährte. Die langsamen, melancholischen Töne werden jedoch schnell von dicken, aber schwerfälligen Gitarrenriffs abgelöst. Im Refrain gerät Lucinda dann auch mal ins Schreien – sehr verträglich wohlgemerkt. Ansonsten prescht „Seafoam“ gerne mal nach vorne („Berlin“), um dann wieder die Luft ein wenig rauszunehmen („Good for nothing“). Durch jenes Zusammenspiel und die stets schweren Melodien entsteht eine ganz harmonische Mischung aus Wut und Melancholie, die das Album sehr besonders macht.
Was sind die großen Momente auf „Seafoam“?
Ganz groß wird „Seafoam“ im letzten Drittel. Angefangen mit der äußerst spritzigen Single „Deathcap“ geht die Platte hier ihren außergewöhnlichsten Weg. Nachdem zunächst ordentlich auf die Tube gedrückt wird, folgt mit „Weaker than“ das einzige, durchweg ruhige Stück des Albums. Hier experimentiert das Duo mit halligen Gitarren- und Stimmeffekten, wodurch der Song an Tiefe gewinnt und überdies zeigt, dass Lucinda verdammt gut singen kann. Zentral ist auch das anschließende „Unhealthy love“, welches sämtliche Stilrichtungen des Albums eindrucksvoll vereint. In einer eher leisen Strophe führt Lucindas Gesang über sich in Effekten windenden Gitarren, bevor die Engländerin in eine Art Spoken-Word-Stil übergeht und sich die Seele aus dem Leib schreit. Der folgende Refrain überzeugt mit einer einprägsamen Melodieführung. Richtig emotional wird es schließlich im Closer „I don’t want to be sad forever“, in dem das Duo zu düsteren Klängen sehr viele wichtige Zeilen raushaut. „We don’t need more money, we need peacemakers“ ist da besonders plakativ – dazu gibt es astreine Gitarrengewitter. Gänsehaut!
Was muss ich wissen, um meine Freunde zu beeindrucken?
Keiner der zuvor veröffentlichten Songs der Kamikaze Girls befindet sich auf dem Debütalbum. Überraschend ist auch, wie jung die Ansammlung der Tracks ist. Sängerin Lucinda beschreibt den Moment, in dem der Großteil der Platte entstanden ist als unglaublich schwere Zeit. Gerade zurück von einer langen Tour, keine Kohle mehr, nicht mal einen festen Wohnsitz, aber die bereits geplanten Albumaufnahmen. All dies war im November des letzten Jahres. In jener Periode hat Lucinda das Grundgerüst von „Seafoam“ geschrieben. Und ganz ehrlich: Die Verzweiflung dieser Situation ist den elf Tracks sowas von anzuhören.
Wann sollte ich „Seafoam“ am besten auflegen?
Die knapp 40 Minuten eignen sich natürlich nicht zum Candlelight-Dinner – es sei denn dieses soll zum gemeinsamen sich-über-die-Welt-Abfucken und Bier trinken ausarten. Leichter Stoff ist „Seafoam“ definitiv nicht. Einerseits dürften die schon erkennbaren Hardcore-Anleihen einige Leute abschrecken – andererseits ist da die äußerst krachende, DIY-mäßige Produktion. Vor allem durch diese ist „Seafoam“ aber besonders intensiv und sollte daher behutsam in besonderen Momenten eingesetzt werden. Die Platte eignet sich wunderbar zum persönlichen Verschwinden in andere Dimensionen. Ein philosophischer Bierabend mit Gleichgesinnten, bei dem auch gerne mal die ein oder andere Gesellschaftskritik durchkommt, passt aber auch großartig.
„Seafoam“ erscheint am 9. Juni. Im that new music mix könnt ihr gerne schon in „Deathcap“ reinhören. Tourdaten für Deutschland sind derzeit nicht angekündigt.